‘Abraxas Kalender’ von Claas Hoffmann


Besprechung: Claas Hoffmann, Abraxas-Kalender, Leipzig: Araki Verlag Georg Dehn 2018 (2. stark überarb. Aufl.), ISBN: 9783936149272

Von Frater V∴D∴


Frisches Hirnfutter für Thelemiten gibt es nicht alle Tage: Das Feld scheint thematisch weitgehend abgegrast zu sein, und so beschränken sich die einschlägigen Publikationen entweder auf das Recyceln von Klassikern oder auf die üblichen kleinteiligen Diadochenkämpfe diverser Crowley-Epigonen.

Diesem etwas tristen Gesamtbild stemmt sich Claas Hoffmann mit seinem Abraxas-Kalender erfolgreich entgegen. Erstmals erschien dieser bereits 2010 in einer Mini-Auflage von nur 93 Exemplaren, die hier vorliegende zweite Auflage wurde 2018 veröffentlicht und zwar in erheblich erweiterter und überarbeiteter Fassung: ganz offensichtlich ein veritables Lebenswerk.

Aleister Crowleys Offenbarungsschrift Das Buch des Gesetzes (Liber Al vel Legis, auch schlicht: Liber Al) in Neuübersetzung auf einen immerwährenden Jahreskalender zu übertragen – darauf muss man erst einmal kommen. Doch damit allein ist es natürlich nicht getan. So bietet das Buch noch einiges mehr, sowohl inhaltlich als auch funktional, was es zu einem thelemitischen Allround-Werkzeugkasten macht. Tatsächlich stellt sich das Projekt bei genauerer Betrachtung als ziemlich komplex dar, und so sei jedem Leser dringend angeraten, sich zunächst in das sehr umfangreiche Vorwort zur zweiten Auflage zu vertiefen, da sich der Kalender ohne die dort dargebotenen Erklärungen, Erörterungen und Begründungen (viele davon übrigens Crowley-Kabbala pur) kaum erschließen dürfte. Auch das ebenfalls abgedruckte Vorwort zur ersten Auflage ist trotz einiger Wiederholungen lesenswert, zumal es im abschließenden Teil konkrete technische Anweisungen zum praktischen Gebrauch des Kalenders bietet.

Worum geht es nun genau? Es wird jedem Tag des Jahres ein Vers aus dem Liber Al zugeordnet, was dem Benutzer als Meditationsvorlage dienen soll. Damit können Thelemiten den Offenbarungstext systematisch tiefer durchdringen und zu einem festen Bestandteil ihres Alltagslebens machen. Freilich gibt es dabei ein technisches Problem: Das Liber Al umfasst nur 220 Verse, wodurch die Rechnung bei einem kalendarischen 365-Tage-Jahr zunächst einmal nicht aufgeht. Hoffmann bietet eine Lösung an, indem er die ersten beiden Kapitel des Texts, nämlich “Nuit” und “Hadit” wiederholt, um den Kalender aufzufüllen. Dies begründet und untermauert er mit allerlei kabbalistischer Gedankenakrobatik, um die innere symbollogische Kohärenz seiner Verfahrensweise zu verdeutlichen – eine Methode, die auch Aleister Crowley selbst immer wieder angewandt hat. Das dürfte den einen oder die andere vermutlich überraschen, möglicherweise auch nicht immer überzeugen, aber Hoffmann tut es mit Verve, Begeisterung und viel Herzblut, kurzum: Charme. Es ist nicht zu verkennen, dass sowohl hinter als auch in diesem Werk sehr viel Liebe steckt, dabei argumentiert er zugleich durchaus kenntnisreich und intelligent.

Wie es im Liber Al ausdrücklich vorgeschrieben ist, wird jeder Vers zudem in Reproduktion der Originalhandschrift Crowleys dargestellt, darüber steht die deutsche Neuübersetzung, die dankenswerterweise qualitativ keinen Vergleich mit anderen, früheren Übersetzungen scheuen muss ja sich von den meisten eher amateurhaften, bisweilen geradezu grotesken Versuchen wohltuend abhebt.

Doch es gibt noch sehr viel mehr zu entdecken. Zum einen bietet der Autor eine Methode an, mit welcher das Liber Al, oder, genauer, der Abraxas-Kalender selbst als Orakel verwendet werden kann. Das Verfahren ist einigermaßen kompliziert, es verlangt einen Würfel und vier Münzen, um die zahlreichen erforderlichen Schritte zu vollziehen, bis man schließlich seine Orakel-Antwort erhält. Das mag in Zeiten der ständig in Anspruch genommenen konsumistischen Sofortbefriedigung etwas umständlich anmuten – warum nicht stattdessen einfach das Buch willkürlich aufschlagen und blind auf einen Eintrag tippen? Darüber wird allerdings gern vergessen, dass jede Orakelbefragung einen gewissen Gemütszustand meditativer Empfänglichkeit voraussetzt, um zu subjektiv zufriedenstellenden Ergebnissen zu gelangen. Ähnlich verhält es sich mit dem I Ging, bei dem erfahrene Benutzer in der Regel die langwierige, etwas mühsame Methode des vielfachen Abzählens von Schafgarbenstängeln bevorzugen, anstatt schnell ein paar Münzen zu werfen oder die fertigen Hexagramme auf Schildpatt- oder Elfenbeintafeln flugs aus einem Beutel zu schütteln. Diese Verfahrensweise hat also weniger mit dem Orakeltext selbst zu tun, dafür umso mehr mit der geistigen Verfassung des Fragenden. Durch den aufwändigen mechanischen Befragungsprozess wird ein entschleunigter meditativer Grundzustand hergestellt, durch den sich Orakelaussage und deutende Intuition vermählen.

Da sich allerdings nicht jeder Vers des Liber Al als unmittelbare, vordergründige Orakel-Antwort eignet, unterstützt Hoffmann das Verfahren, indem er jedem Tageseintrag außerdem noch eine kurze Deutungsempfehlung beifügt, beispielsweise: “Gedanken werden Wirklichkeit. Die Bedeutung des Namens erkennen.” (S. 170); “Gemeinsam eine neue Welt bauen. Tränen trocknen!” (S. 203); “Nicht warten! Selbst aktiv sein.” (S. 265) usw. Das ist nützlich, pragmatisch gedacht und auch für Einsteiger sehr benutzerfreundlich.

Auf den ewigen Kalender selbst folgt ein Abschnitt von stolzen 180 Seiten, beginnend mit dem Kapitel “Kommentare zu den 36 Dekanaten”. Die setzen allerdings einiges an Vorkenntnissen voraus, wie der Autor ausdrücklich betont:

Für das Verständnis der folgenden 36 Kommentare zu den Dekanaten des Tierkreises ist die Kenntnis der Symbolsprache von Aleister Crowleys Thoth Tarot notwendig.

Der Leser, der die Symbole der Karten nicht vollständig verinnerlicht hat, sollte idealer Weise ein Thoth Tarot zur Hand haben, um die in den Kommentaren benannten Bildinhalte in den Karten wiederfinden und studieren zu können. (S. 319)

Die dieserart kompilierten Elemente werden durch detaillierte Zodiak-Grafiken veranschaulicht. Grundlage der Betrachtung sind die weniger bekannten Ausführungen Crowleys zu den astrologischen Dekanaten und ihren Bezügen zum Tarot.

Weitere Abhandlungen umfassen unter anderem: “Die Gradastrologie im Abraxas-Kalender”, “Radix zur Übertragung des persönlichen Horoskops (Zodiak gegen den Uhrzeigersinn)”, “Jupiter im Abraxas-Kalender”, “Heidnische Feste im Abraxas-Kalender”, “Das Liber Al im Tierkreis”, “Die Hofkarten: Der Mensch im Abraxas-Kalender”, “Die Abraxas-Uhr”, “Kabbala der 36 Dekanate”, “Die Sephiroth im Abraxas-Kalender”, “Die Gradschlüssel” usw., dazu gibt es Hinweise zum Umgang mit Schaltjahren und so einiges mehr, abgeschlossen von einem Quellenhinweis. Alles sehr systematisch und strukturiert, noch dazu von einer beispiellosen Faktendichte, die viele, viele Stunden, Tage und Wochen, wenn nicht gar Monate und Jahre der vertiefenden Kontemplation und der intuitiven spirituellen sowie magischen Arbeit verspricht: Wer hier als echter Thelemit und Crowleyaner nicht vor Freude in Ekstase fällt, dem ist wohl nicht zu helfen.

Abschließend verdienen noch zwei Fremdbeiträge gesonderte Erwähnung. In seinem “Vorwort zur Erstauflage (2010)” erörtert Alexander Graeff die Verschränkungen des Okkultismus mit der modernen Kunst. Dabei kommt der Surrealismus mit seiner écriture automatique ebenso zur Sprache wie spiritistisch und visionär beeinflusste Künstler: Victor Hugo, Maurice Maeterlinck, Wassily Kandinsky, Franz Marc, Henri Rousseau, Hilma af Klint und natürlich auch Aleister Crowley selbst. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte des Liber Al gelangt Graeff zu der Schlussfolgerung:

Das Liber AL ist […] eine Art Tür ins moderne Bewusstsein seitens des Lesers. Nur hier – im eigenen Bewusstsein – kann sich die Wandlung und Befreiung vollführen. Diese Wandlung wird sich unabwendbar auf sein Fühlen, Denken und Wollen auswirken. Die ägyptischen Götter, die den drei Kapiteln zugeordnet sind, entsprechend diesen Existenzialien des Menschen.

Das Liber AL löst bei seinen Lesern mitunter heftige Reaktionen aus. Neben Euphorie bei den einen, auch Ekel, Abscheu und Unverständnis bei anderen. Dies sind die Hürden, die der moderne Mensch zu nehmen hat; überwindet er diese nicht einmal beim Lesen der Verse, wird er sie im Leben erst recht nicht überwinden können. Die Wandlung muss folglich unbequem sein. Nur so kann sich auch der Kerngedanke des Liber AL offenbaren: “Tue was du willst soll sein das Ganze des Gesetzes!” (S. 20)

Das ist zweifellos gut und präzise zusammengefasst.

In seinem Aufsatz “Abraxas – ein lachender Gott” bringt uns Graeff seine Auffassung der gnostischen Gestalt des für den Kalender namensgebenden Abraxas nahe. Da mag sich allerdings manch ein Gnostizismus-Kenner heftig die Augen reiben, wenn er Formulierungen wie die folgende liest:

In einem ägyptischen Zauberpapyri [sic], das [sic] von Abraxas berichtet, heißt es: “Und der Gott lachte siebenmal: Cha Cha Cha Cha Cha Cha Cha.[”] Mit seinem Gelächter erschuf der Urgott Abraxas die Welt. Jedes “Cha” erzeugte zunächst einen der sieben Untergötter, die sieben Planeten des antiken Kosmos. Und diese sieben Untergötter erschufen im Auftrag des Urgottes die Welt.

Für viele gnostische Sekten in den ersten zwei Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung war Abraxas ein bedeutender Gott. […]

Der Kerngedanke der Abraxas-Symbolik ist, dass der Mensch als Geschöpf innerhalb der Schöpfung in jeder offenbarten Faser der Welt das Wesen des Schöpfers selbst erkennen könne. Die Gnostiker betrieben nicht nur religiösen Kult, sondern waren bestrebt, im Sinne einer der Welt zugewandten Mystik, sich selbst mit dem Gott in der Welt zu vereinigen. (S. 32a f.)

Das ist, vorsichtig formuliert, gewöhnungsbedürftig, ebenso wie seine pauschale Gleichsetzung der griechisch-ägyptischen Zauberpapyri und des Corpus hermeticum mit antiker gnostischer Literatur, ganz so als brauche man zwischen Gnostizismus, Platonismus, Hermetik, hellenistischem Ägyptizismus und Neuplatonismus nicht zu unterscheiden, um nur einige wenige der relevanten zeitgenössischen Geistesströmungen und Lehrgebäude zu nennen; ganz davon abgesehen, dass die in den meisten überlieferten gnostischen Texten vorherrschende antikosmische Grundhaltung hier völlig ignoriert ja regelrecht negiert wird. Ebenso wenig erwähnt wird der Konflikt mit dem unter den verschiedensten Namen bekannten Demiurgen (Ialdabaoth, Saklas, Samael usw.) als eigentlicher Herrscher, nach anderer Lesart sogar als blinder, unwissender wenn nicht gar bösartiger Schöpfer einer essenziell misslungenen Welt. Weshalb Graeff die gnostischen Archonten nicht als solche bezeichnet, immerhin ein durchaus geläufiger Begriff, bleibt ebenfalls rätselhaft. Sein Hinweis auf Basilides im Zusammenhang mit dem Abraxas-Kult ist zwar zutreffend, allerdings fehlt die Kautele, dass wir davon nur aus den Polemiken christlicher Kirchenväter wissen, die jahrhundertelang einen verbitterten Kampf gegen alles Gnostische führten.

Seine Behauptung, dass der Abraxas-Kult noch bis ins Mittelalter und in die Renaissance hinein überlebt habe, ja dass er in beachtlichem Umfang die mittelalterliche Mystik durchdrang, findet sich zwar gelegentlich in älteren Quellen wie etwa bei Albert Pike, die aber nach heutigem Stand der Forschung keineswegs mehr als belastbar gelten.

Auch die intensive Verknüpfung des Abraxas-zentrierten Gnostizismus mit dem freimaurerischen Kultus, auf die Graeff ausführlich eingeht, sollte zumindest mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Da wird so manches in einen Topf geworfen, von dem man sich im Interesse der Präzision wünschte, es würde etwas sauberer auseinandergehalten.

Doch sei’s drum: Der Qualität des Gesamtwerks tun diese eigenwilligen, ohnehin nur wenige Seiten beanspruchenden Interpretationen keinen Abbruch, zumal Graeff mit einiger Genauigkeit kerngnostische Konzepte wie nouslogosphronesisdynamis und sophia erläutert und in einen inhaltlichen Zusammenhang mit dem Liber Alstellt.

Ebenfalls bei Graeff findet sich auf Seite 19 übrigens ein längeres unübersetztes Crowley-Zitat, offenbar eine Abschrift vom Deckblatt des Liber Al-Originalmanuskripts. Dieser Text enthält zwei für Crowley eher untypische Orthographiefehler: “it’s” statt korrekt “its” sowie “helpfull” statt “helpful”. Mangels Verfügbarkeit einer Reproduktion dieses Deckblatts, was einen genauen Vergleich leider unmöglich macht, kann hier nur ein Hinweis an den Verlag gegeben werden, diese Stelle bei einer eventuellen Neuauflage zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Ansonsten handelt es sich beim Abraxas-Kalender um ein gediegenes, mit sehr viel editorischer Sorgfalt und handwerklichem Können produziertes Oktavbändchen, das auch sehr gut in der Hand liegt und praktischerweise sogar ein Leseband aufweist. Daher: jedem ernsthaften Thelemiten und Crowley-Fan unbedingt zu empfehlen!

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