‘Magie heute’ von Frater V∴D∴, Harry Eilenstein, Josef Knecht und Axel Büdenbender


Besprechung: Frater V∴D∴, Harry Eilenstein, Josef Knecht und Axel Büdenbender, Magie heute. Berichte aus der Praxis, Norderstedt: Books on Demand 2019, Hardcover, 284 S., ISBN: 9783750418059

von Frater Acher


Magie heute ist ein höchst ungewöhnliches Buch und sollte doch genau das eigentlich nicht sein. Wie der Untertitel sagt, ist es ein Buch, das völlig in der magischen Praxis verwurzelt und auf diese zugeschnitten ist. Insbesondere spricht es von jener Art von Magie, die nicht in jahrhundertealte Traditionen gehüllt daherkommt, in Gewändern aus kryptischen Symbolen und toten Sprachen, pfauengleich stolzierend und umgürtet von den Schärpen ältester Abstammungslinien. Ganz im Gegensatz dazu verkörpert Magie heute die Art von Magie, die einem geradeheraus ins Gesicht starrt und dabei fest in den Magen schlägt, während man versucht, halbwegs als Herr oder Herrin der Lage zu erscheinen. Dieses Buch ist prall gefüllt mit jener Form von Magie, die man stets nur im Augenblick, im Hier und Jetzt antrifft. Natürlich ist das die einzige Art von Magie, die es überhaupt gibt. Und genau deshalb verdient Magie heute eigentlich, kein außergewöhnliches Buch sein. Was es dazu macht, ist eine Welt, in der Verkaufszahlen mehr Gewicht haben als Authentizität und Konsumentenvorlieben schwerer wiegen als Qualität. So sieht sich der bibliophile Okkultist des Jahres 2020 von einem Meer von Neuerscheinungen umgeben, die alle den hohen Anspruch erheben, einzigartige Schlüssel zur magischen Praxis zu liefern. Natürlich tun sie das seltenst und kochen stattdessen gerne Suppen auf, von denen wir alle schon zu Genüge gegessen haben. 

Das vorliegende Buch ist eine wundervolle Ausnahme, eine Boje der Zuversicht in dem beschriebenen Ozean, an der man seinen nautischen Kompass gerne neu justieren sollte: Die vier Autoren des Buches begrüßen uns mit einer Sprache, die gefärbt ist von diebischer Untertreibung und mörderischer Präzision, und verfügen gemeinsam über mehr als 120 Jahre praktischer magischer Erfahrung. Auf spielerische Art und Weise, gespannt über den Bogen von 24 schillernden Kapiteln, gelingt es ihnen, die Messlatte dafür, was magische Praxis tatsächlich bedeutet und was es braucht, um ihr gerecht zu werden, neu zu definieren.

Überraschen sollte das den Leser allerdings nicht unbedingt. Sind es doch genau diese vier Autoren, jetzt alle im fortgeschrittenen Alter, die im Wesentlichen die pragmatische Wende der modernen westlichen Magie geprägt haben. Die prominenteste Figur unter ihnen, Frater V∴D∴, ist seit mehr als dreißig Jahren ein Synonym für die ikonoklastische, jedoch zutiefst philosophische Strömung der modernen Magie, die auf Gründervätern wie Austin Osman Spare aufbaut, aber weiterhin im Geiste einer radikalen systemischen Erneuerung arbeitet, wie sie z. B. von Franz Bardon oder der frühen Fraternitas Saturni bekannt ist. So definieren die beiden magischen Paradigmen, die von Frater V∴D∴ begründet wurden – die Pragmatische Magie und die Eismagie – die grundsätzliche Haltung, welche sich konsequent durch die schattierungsreichen Essays zieht. Der zweite Autor mit einer bedeutenden Bibliografie unter den vier ist Harry Eilenstein. Anders als Frater V∴D∴ ist jener jedoch trotz seiner mehr als 130 veröffentlichten Bücher den meisten Lesern weitaus weniger bekannt. Es sind gerade seine Beiträge, die Magie heute nicht nur als Aufforderung zur radikalen Neuausrichtung der eigenen Praxis erscheinen lässt, sondern auch als Einführung in ein einzigartiges, bisher wenig beschriebenes magisches Weltbild, welches Eilenstein in über mehr als vierzig Jahre magischer Praxis entwickelt hat. 

Wie bereits erwähnt, stechen der höchst unverbrämte Angang und die äußerst zugängliche Alltagssprache als angenehme Unterscheidungsmerkmale des Buches hervor. Wie aber lässt sich die Strategie der Autoren beschreiben und was erfahren wir über ihr eigentliches Anliegen? Um dies zu verstehen, müssen wir in der Zeit zurückreisen.

Es war in den späten 1970er Jahren, als Frater V∴D∴ eine damals im deutschen Sprachraum bekannte okkulte Buchhandlung besaß. Dort, im westdeutschen Bonn, traf sich vor vierzig Jahren eine bunte Gruppe junger Menschen, deren Zusammenkünfte später unter dem Namen Bonner Arbeitskreis für Experimentalmagie bekannt werden sollten. Über mehrere Jahre unternahmen sie eine radikale Reise der magischen Erkundung, durchkreuzten okkulte Strömungen, Paradigmen, Traditionen und Weltanschauungen, um ihr Wissen aus erster Hand darüber zu erweitern, wie Magie sowohl objektiv funktioniert als auch subjektiv erlebt wird. Ihr hochgradig pragmatischer Ansatz in der Magie führte nicht nur zu einer Flut von neuen persönlichen Entdeckungen, sondern auch zu heftigen Veränderungen im Alltagsleben der Mitglieder. Zugleich wurden die Jahre des Bonner Arbeitskreises – darunter auch für unsere Autoren – zum Sprungbrett in eine komplette Biografie, die zutiefst von der Magie geprägt werden sollte. 

Lassen wir die Autoren die Atmosphäre von damals selbst beschreiben, bevor wir uns einigen der Einsichten und Anekdoten annähern, die sie auf den fast 300 Seiten von Magie heute für uns nachzeichnen und zur Neujustierung unseres eigenen Weges anbieten.

Vom Alter her waren sie zwischen Mitte 20 und Anfang 30, das Verhältnis Männer zu Frauen war fast ausgewogen. In der Mehrzahl waren sie Studenten, allerdings verteilt auf die unterschiedlichsten Fächer: Ägyptologie, Anglistik, Ballett, Biologie, Germanistik, Indologie, Literaturwissenschaft, Medizin, Physik, Soziologie und Vergleichende Religionswissenschaft. Hinzu kamen drei Teilnehmer aus krankenpflegerischen Berufen, darunter eine Koreanerin und ihr deutscher Ehemann. Ein Teilnehmer arbeitete gerade an seinem Magister-Abschluss und betrieb parallel dazu als Geschäftsführer die erwähnte Buchhandlung, darf also zugleich als Buchhändler gezählt werden, ebenso seine beiden noch im Studium befindlichen Kompagnons, die gleichfalls den Arbeitskreis mitbegründeten. 

Die Gruppe setzte sich zusammen aus zwei Ehepaaren (ein weiteres Paar sollte kurz nach der Gründung ebenfalls heiraten), aus Mitgliedern, die schon länger miteinander befreundet waren, aus Lebenspartnern und Singles. Alle trafen sie in dieser Gesamtzusammensetzung zum ersten Mal aufeinander. Auch der magische Hintergrund der Beteiligten hätte unterschiedlicher nicht sein können. Vom blutigen Anfänger bis zum erfahrenen Bardonianer, von der Expertin für magisches Kräuterwissen und Mythologie über die akademische Tantrismus-Forscherin, den Wicca-Kenner und den Sigillenmagier, den Runen-Vitki und den Kundalini Yoga-Adepten verteilte sich der Erfahrungsschatz und das Wissen der Gruppe, jeweils bezogen auf einzelne oder mehrere Mitglieder, auf solch unterschiedliche Gebiete wie Runenmagie, die neuhermetische Golden-Dawn-Tradition, Astrologie, Radiästhesie, Naturmagie, altägyptisches Heka, Talismantik, kabbalistische Magie, freimaurerische Symbolik, Telepathie und Parawissenschaften, mittelalterliche Alchemie, Sufismus, afro-karibische Besessenheitskulte, östliche Weisheitslehren von der vedantischen, meist etwas irreführend als „Hinduismus” bezeichneten Religion über den Buddhismus bis zur Yoga-Philosophie, Mantramistik, westliche magische Bünde und Orden, Sexualmagie, die Tradition des deutschen Okkultismus der Zwischenkriegszeit sowie zahlreiche weitere Themen. 

[…]

So erschufen wir nach und nach unser eigenes magisches Erlebnis-Ökotop, ohne dass wir dies unbedingt gezielt angestrebt hätten. Im Ergebnis standen auch weniger irgendwelche weltbewegenden, einmaligen Erkenntnisse im Raum als vielmehr das Wissen darum, dass die Wege der Magie von einer geradezu unerschöpflichen Vielfalt gekennzeichnet sind, an der noch jedes einfältige, weil alles unzulässig vereinfachende, praxisferne Dogma kläglich scheitern muss.

Ebenfalls ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Aspekt des ganzen Unterfangens: die stets abrufbare Erkenntnis eines jeden Teilnehmers – wozu ein einziger Blick in die Runde genügte –, dass es tatsächlich noch andere Magier gab, dass man mit seinem Ringen um die Hohe Kunst nicht allein auf der Welt war. Und schließlich spielte wohl für jeden auch die schiere Lust am Abenteuer Magie eine herausragende Rolle.

Zweifellos war vieles davon zunächst kaum mehr als angelesenes Halbwissen, doch genau darum ging es ja auch: diese vielfältigen Impulse aufzugreifen und in praktische Erfahrung zu überführen. Insgesamt war der Grad der magischen Belesenheit jedenfalls überdurchschnittlich hoch. Hinzu kam ein nicht zu unterschätzender Fundus reicher praktischer, unterschiedlichster Erfahrung einzelner Mitglieder, von dem schließlich alle gemeinsam profitieren sollten. Zudem sollte sich die anstehende magische Arbeit und praktische Fortbildung der meisten Teilnehmer nicht allein auf die Gruppentreffen beschränken. So wurde zuhause in Eigenregie oft weitergearbeitet, um die anderen bei den Treffen an den gemachten Erfahrungen, den gewonnenen Erkenntnissen und den sich daraus entwickelnden Fragestellungen teilhaben zu lassen. (S. 9/13)

Vor diesem Hintergrund treten uns die Autoren in ihrer heutigen Gestalt entgegen: gefärbt von den Erinnerungen und Einschnitten der Vergangenheit, um 40 Jahre reifer, leicht nostalgisch, und noch immer zutiefst in der pragmatischen Strömung der Magie verwurzelt. 

 

 

Frater V∴D∴

Anknüpfend an die Einführung nimmt uns Frater V∴D∴ auf einen Teufelsritt durch die wesentlichen Merkmale der Westlichen Magie seit dem 12. Jahrhundert mit: Wie im Nebenlauf hören wir von hoher und niederer Magie, Schamanismus und Volksglauben, Magie vs. Religion, mittelalterlicher Buchkultur sowie der komplizierten Frage nach der Notwendigkeit magischen Talents. Und wie so oft bei diesem Buch, wird der Leser erst in der Mitte des Kapitels merken, wie brillant der Text konzipiert ist; denn genau das ist der Effekt der trügerischen Schlichtheit, mit welcher er sich präsentiert. Was Frater V∴D∴ auf weniger als zwanzig Seiten leistet, haben viele akademische Forscher der westlichen Magie in ganzen Bänden nicht geschafft: eine riesige Zeitspanne auf ihre wesentlichsten Merkmale und Fragen zu verdichten. Fragen, welche für den ernsthaften, aber pragmatischen Praktiker von zentraler Bedeutung sind. So befinden wir uns mitten auf diesem Teufelsritt durch die Jahrhunderte, nur um plötzlich eine scharfe Wende zu nehmen und mit einem Mal in die Arbeitsweise „Magischer Spezialkräfte“ eingeführt zu werden, d. h. in den relativ jungen Trend, magische Prinzipien und Praktiken für die Elite-Kampfausbildung im Militär nutzbar zu machen. Ein Beispiel dafür ist die Systema-Technik und ihr prominenter russischer Vertreter, Wladimir Wassiljew. Was zunächst wie eine willkürliche Abweichung erscheinen mag – von den mittelalterlichen Scholastikern zu Paracelsus, zur Bibliotheksmagie und plötzlich zum russischen Systema-Kampftraining zu springen – ist in Wirklichkeit Ausdruck essenzieller Methodik auf Seiten des Autors. Frater V∴D∴ hat den Mut, die persönliche Eigenleistung des Lesers umzukehren: Anstatt hauptsächlich damit beschäftigt zu sein, einer hochkomplexen akademischen Sprache zu folgen, präsentiert sich der Text selbst in extremer Schlichtheit. Was es im Gegenzug vom Leser einfordert, ist höchste Geistesgegenwart und ein Auge für das Unausgesprochene; nur so erschließen sich dem Leser die dem Text zugrundeliegenden Intentionen. Weil der Pragmatische Magier jede Art von Orthodoxie als eine Falle empfindet, führt uns der Autor mit schlafwandlerischer Gewandtheit durch das weite Terrain der Magischen Tradition, gerade nicht, um zu verweilen und innezuhalten, sondern um uns im nächsten Moment in scheinbar ungewohnte Umgebungen einzutauchen. Der Schock der Gegensätze bricht den Lesefluss und stellt unausgesprochene Fragen. So wird der Leser aufgefordert, sich im Geiste piratenhafter Freibeuterei und katzenhafter Eleganz durch die Jahrhunderte zu bewegen – aufzugreifen, was immer funktioniert, und abzuwerfen, was den Weg blockiert. Pragmatische Magie eben.

Aber täuschen wir uns nicht: Magie heute ist ein Buch, das für Anfänger und Neophyten geschrieben wurde. Möglicherweise auch für den nostalgischen Praktiker, der die lebendige Frische vermisst, die Dinge zum ersten Mal zu sehen. Als Leser mit mehr als zwanzig Jahren praktischer magischer Erfahrung, wünschte ich, ich hätte dieses Buch bereits als junger Student in meinem Regal gehabt; mein magischer Weg wäre geradliniger, meine Haltung klarer und meine Eingeständnisse von Fehlern schneller gewesen.

 

 

Axel Büdenbender

Das Buch nimmt eine Wendung zum Wunderbaren und leicht boulevardesken, sobald uns Axel Büdenbender in Interviewform vorgestellt wird. Erinnern Sie sich noch an Jackie Chan in The Drunken Master (1994)? Chan prägte mit diesem Film eine recht ungewöhnliche Spielart der asiatischen Kampfkünste: Man sah ihn torkelnd, mit schweifenden, scheinbar ungelenken Bewegungen, als wäre er kurz davor, in rauschhafte Ohnmacht zu fallen – nur um im entscheidenden Moment hart und schnell, und doch ohne Bruch der gleitenden Bewegungen, auf seine Gegner einzuschlagen. Genau diesem Anblick entspricht die Sprache und der selbstironische Tonfall, mit dem Axel seine magische Biografie beschreibt. Und ja, nachdem wir gelesen haben, was er uns zu sagen hat, sind wir alle mit Axel „per Du“. Wir lesen von jahrzehntelanger magischer Praxis, kompromisslos durchgezogen in der Haltung des adrenalinsüchtigen Teenagers und des kopflosen Drogenabhängigen. Wir folgen seinen Schilderungen und verspüren die zunehmende Hoffnung, jemand möge diesem Mann bitte einen anstrengenderen Alltagsjob geben, nur um ihn aus dem biografieübergreifenden Strudel aus Drogen, Magie und langen Nächten zu erlösen … Am Ende blicken wir auf das Urteil, das er selbst über seinen magischen Lebenslauf spricht. Erst da treten die Umrisse einer kompromisslosen Selbstverpflichtung in den Vordergrund, getragen von einer Leichtigkeit, die ständig in Leichtfertigkeit abzugleiten droht und den Tanz auf des Messers Schneide zwischen Tod und Leben liebt. Still tritt da eine Bewunderung für den Mann hervor, der sich selbst so klar und ungeschminkt als das erkennt, was er ist, und vollständig anzunehmen weiß. Hier sind einige Ausschnitte aus dem biografischen Interview, die uns einen lebendigen Eindruck vermitteln: 

Axel: Und weil er mein Freund war, fühlte ich mich auch verpflichtet. Da hab ich ein bisschen Psychodrama gemacht – das hat er danach direkt wieder vergessen. Das war oben am Rodderberg auf seinem schönen Flachdach, das war wie so ein Balkon, da schaute man direkt aufs Siebengebirge. Da hab ich dann gewartet, bis es Vollmond war. 

Da haben wir dann irgendein Ritual mit Teilen aus dem Unicorn zusammengezimmert: Isis, irgendwelche Sachen ein bisschen auswendiggelernt, der Text war von der G. K. – ich weiß das nicht mehr so genau ... und da dachte ich, ich zieh da mal ein bisschen ’ne Show ab und dann hat der seine Ruhe und dann kann ich mein Bier zuende trinken - denn zuhause durfte ich damals nichts mehr trinken. 

Und dann hab ich gemerkt, als ich das Gewand anhatte – das, was du mir damals genäht hast – dass ich ein anderes Gefühl bekomme, wie ein Priester in der Kirche ... kennst du das? 

Harry: Ja, das kenne ich gut. 

Axel: Das Gefühl war irgendwie da und da wusste ich, dass das klappt. Ich wusste es! Und das ganze Ritual kam mir ja aus der Seele – richtig magisch. Und dann hab ich das Gewand wieder ausgezogen und den Stab beiseite gelegt - da war wieder alles vorbei. Da hab ich dann meine Flasche Bier ausgetrunken und bin nach Hause gegangen. (S. 63)

[…]

Axel: Es war sonntags – da hab ich mich gelangweilt ... das kommt eigentlich selten vor. 

Da hatte ich von meinem Neffen noch ’n Rest Gras. Da hab ich ’ne Flasche Bier aufgemacht und hab mir gedacht, trinkst zwei Flaschen Bier, rauchst das Pfeifchen Gras, vielleicht kommt dann mehr Schwung in die Hütte. Da hab ich das Gras geraucht und dann belämmert auf der Couch gesessen. 

Da dachte ich, ist das alles? Dafür gehen Leute in den Knast, für den Scheiß! Ich war einfach nur breit ... aber auf einmal merkte ich ’n Schlag unten am Steiß, ich dachte erst, ich sitze falsch ... Ich habe mich gerade gesetzt, aber dann tat’s noch ’n Schlag gegen den Steiß und ich dachte: „Was ist das?" 

Und dann kroch das höher und ich dachte: „Scheiße, jetzt kriegst du ’nen Herzinfarkt, ’nen Schlaganfall!" 

Und dann kroch das immer weiter hoch und dann kam das aus mir raus und ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Ich hatte keine Kontrolle mehr da drüber. 

Da hab ich mich im Schneidersitz vor’s Bett gesetzt – das war nicht ich, das habe nicht ich gewollt und gemacht – und ich drück die Zunge an den Gaumen und mach den Kopf gerade ... und dann schießt mir die Energie in den Kopf – und vorher, genau davor, musste ich die Augen zumachen – ich habe gefühlt, wie ’ne Hand mir die Augen schloss – ich konnte die nicht mehr aufhalten ... 

Und dann sah ich die Energie, die über meinen Kopf hinausschoss und sich dann irgendwo im Raum sammelte oder im Kosmos oder wie du’s nennen willst, keine Ahnung – die schoss dann durch meine Füße wieder hoch ... 

Das ging dann ’ne halbe Stunde so ... Dann hab ich mich nach vorne gelegt, einen Buckel gemacht, mit dem Kopf auf dem Boden, und dann surrte das immer durch mich hindurch: ssst ssst. Das hörte ich und nach ’ner halben Stunde, ’ner dreiviertel Stunde, da hörte das dann wieder auf. 

Da hab ich erst Schiss gekriegt, dann hab ich gedacht: “Mann, das ist ja Wahnsinn!” (S. 66)

[…]

Axel: Doch mit diesen Visualisierungs-Übungen – das hat ’nen nachhaltigen Effekt und das ist nicht für jeden geeignet und ich lass da die Finger davon. 

Da muss ich echt sagen, da bin ich nicht hart genug dafür, das durchzuziehen ... denn du musst dann wirklich weitergehen bis zum Ende – du kannst nicht in der Mitte aufhören, du musst es durchziehen ... und das halt ich nicht durch – das kann wirklich sein, dass dabei deine Psyche kollabiert. 

Das ist wie eine Einweihung: Entweder verträgst du sie und kommst damit klar, oder du kommst nicht damit klar und dann ist Ende – und das trau ich mir nicht zu. Da sind mir Grenzen gesetzt. 

Das möchte ich auch nicht können – ich möchte so bleiben, ich will kein Eingeweihter werden oder wie man das auch immer nennen möchte, oder ein Guru, eine verehrte Persönlichkeit, ein weiser Mensch – ich hab meine Grenzen und es ist gut, dass ich weiß, wo die liegen. (S. 68)

[…]

Harry: Gibt es irgendwas, was du heutigen Magiern raten würdest? 

Axel: Probiert’s aus. Probiert’s einfach aus. Ihr müsst das ausprobieren, wovon ihr meint, dass es zu euch passt. Und wenn ihr meint, ihr braucht den Kick, dann holt euch den Kick. Und es gibt Methoden, bei denen sollte man vorsichtig sein, aber das muss jeder für sich selbst aussuchen. Das würde ich heutigen Magiern raten. (S. 69)

 

 

 

Josef Knecht 

Wenn in der Stimme von Frater V∴D∴ ein Echo von Mephistopheles zu hören ist, und über jener von Axel ein Schatten des „Drunken Master“ liegt, so kann man die literarische Stimme von Josef Knecht nur mit dem schnörkellosen Ton eines kampferprobten Sanitäters vergleichen. Hätten die Eltern der Teilnehmer des Bonner Arbeitskreises in den 1980er Jahren gewusst, dass ihre Sprösslinge sich wieder zur „Arbeit“ treffen, sie hätten alle ruhiger geschlafen, wenn sie gewusst hätten, dass Josef Knecht ebenfalls am runden Tisch saß. Sein Stil besticht nicht nur durch messerscharfe Logik, sondern vor allem durch die Trittsicherheit des erfahrenen Schamanen. Ein Charakterzug, der es Knecht erlaubt, leicht aus dem magischen Bereich in die angrenzenden Gebiete der Biologie, Psyche oder Politik zu gelangen, die er alle gut studiert zu haben schien. Und doch erscheint sein Weg nie zufällig und seine Schlussfolgerungen nie künstlich. Von den fünf Essays, die Knecht vorgelegt, hat uns vor allem seine Auseinandersetzung mit den „Politischen Dimensionen der Magie“ beeindruckt. 

Warum ist das wichtig, und warum soll im Rahmen dieser Traktatsammlung überhaupt darüber nachgedacht werden? Welche Relevanz hat [Politik] für die spirituelle Praxis? 

Einmal ist es natürlich aus unmittelbar politischen Gründen wichtig, denn auch magisch oder sonstwie spirituell aktive Menschen leben gewöhnlich nicht allein in der Wildnis, sondern in sozialen Gemeinschaften und werden von deren Entwicklungen beeinflusst und sind gewissen Rahmenbedingungen unterworfen. Wenn die geistige Freiheit eingeschränkt und das Leben bis ins Private hinein immer mehr überwacht wird, dann wird auch die Ausübung jedweder spirituellen Praxis mühsamer und im schlimmsten Falle irgendwann auch gefährlich. Wir haben also ein elementares Interesse daran, uns an der Erhaltung möglichst offener und lobenswerter Rahmenbedingungen zu beteiligen. Das kann – je nach Interessens- und Charakterlage – sehr unterschiedlich aussehen, aber jede Betätigung in den sozialen Raum hinein profitiert sehr von einem gut geschulten Bewusstsein, Klarheit der Ziele und einer gut koordinierten inneren Kraftstruktur, alles wesentliche Komponenten magischer Erarbeitung. (S. 249)

[…]

Magie hat immer etwas mit Selbst-Ermächtigung zu tun. Sie wendet sich zwar gegen niemanden und möchte nur ihre eigenen Ziele in Ruhe verfolgen können. Aber es scheint so, dass ein magischer Individualismus immer als gegen eine zentralistisch gesteuerte Welt gewendet wahrgenommen wird. Der Rückgriff auf eigene Kräfte und eigenes Denken gibt Freiheit; und Freiheit wird aus einer gewissen politischen Perspektive immer mit Skepsis und Ablehnung betrachtet und im Zweifelsfall unterdrückt. (S. 251)

[…]

Die Ethik einer unabhängigen Spiritualität oder Magie ruht tatsächlich auf einer grundsätzlich anderen Basis als die übliche: Nicht das Gehorchen gegenüber Autoritäten oder Prinzipien ist die Richtschnur ethischen Handelns, sondern Integrität, die innere Übereinstimmung des Handelns mit den eigenen Überzeugungen. Das mag zunächst abstrakt klingen, hat aber wesentliche praktische Folgen, da alle Handlungen von einer ganz anderen als der gängigen Motivation ausgehen. (S. 251)

 

 

 Harry Eilenstein

Und schließlich ist da Harry Eilenstein. Ein Mann, wie erwähnt, von 130 veröffentlichten Büchern, der sich scheinbar eigenhändig aus dem Hut des Magiers zieht. Beim Lesen seiner rasanten Essays fühlen wir uns tatsächlich ein wenig wie Alice im Wunderland, die dem weißen Kaninchen zu folgen versucht: Eilenstein ist bestens mit der weiten Landschaft vertraut, die er mit uns durchwandert. Zudem trägt sein Schreiben viele der Merkmale des kundigen Führers, d. h. die gewandte Zergliederung komplexer Sachverhalte in einfach zu erschließende Komponenten, das Aneinanderreihen logischer Schlussfolgerungen mit erstaunlichen Ausgängen, sowie eine prosaische Bodenständigkeit, die den Leser stets zur selbstständigen Prüfung anregt. Allerdings bewegt sich Eilenstein in einem Tempo, das dem Anfänger den Atem verschlägt.

Was die reinen Kapitelüberschriften anbelangt, so haben Frater V∴D∴ und Eilenstein fast zu gleichen Teilen Beiträge zum Buch geleistet. Beide liefern zweistellige Einträge und prägen damit einen Großteil des Erzählflusses und Inhalts von Magie heute. Eine weitere Eigenschaft, die sie gemeinsam haben, ist die Fähigkeit, sich der undurchsichtigsten magischen Themen anzunehmen und sie chirurgisch in saubere, praktische Schritte zu zerlegen. Der Begriff der Pragmatischen Magie erwacht wirklich zum Leben, wenn Eilenstein uns in ein Alltagscurriculum einführt, das sich von Telepathie, deutscher Buchstabenmagie, Astrologie und Bewusstseinsumschaltungen bis zu seiner einzigartigen Form der Da’ath-Magie erstreckt. Insbesondere seine Essays füllen dieses Buch bis zum Rand nicht nur mit realen Beispielen magischer (Gedanken-)Experimente, sondern auch mit einer groben Skizze neuer Gebiete für die eigene Erkundung des Praktikers.

Besonders hervorzuheben sind die mehr als dreißig Seiten, die sich ausschließlich mit der wenig beachteten Form der Buchstabenmagie beschäftigen. Frater V∴D∴s Kurzbiografie von Sebottendorf ist meisterhaft ausgeführt in Prägnanz und Detail und füllt eine wichtige Leerstelle in der modernen Magieforschung. Die persönlichen Erfahrungsberichte der Magier mit der aktiven Buchstabenmagie vermitteln nicht nur Zugänge sondern auch Wegweiser und Gefahrenhinweise, sollte man den selbständigen Einstieg in dieses noch unbestellte weite Feld der deutsch-sprachigen Magie planen. 

Aber zurück zu Eilenstein: Eingewoben in seine facettenreichen Essays finden wir eine Argumentation, die auf einem radikalen vergleichenden Ansatz zwischen den Naturwissenschaften und der magischen Kunst beruht. Anstatt jedoch zu versuchen, diese beiden in ein brüchiges Meta-Paradigma einzufalten, legt uns Eilenstein die wunderbare Fähigkeit nahe, zwei gegensätzliche Gedanken gleichzeitig auszuhalten, nur um schließlich, und ohne die notwendige Spannung aufzulösen, zu einer dritten und durchwegs neuartigen Betrachtungsweise zu gelangen. Seinen wesentlichen Grundsatz fasst er in seinem Essay mit dem treffenden Titel „Magie und Naturwissenschaften“ zusammen.

Da die Naturwissenschaften den zeitlichen Verlauf von Ereignissen betrachten und die Magie den Sinnzusammenhang zwischen gleichzeitigen Ereignissen betrachtet, ergeben sich aus beiden Betrachtungsweisen recht unterschiedliche Weltbilder. Daraus folgt zunächst einmal, dass man die Magie nicht mit den Naturwissenschaften und genauso wenig die Naturwissenschaften mit der Magie erklären kann.

Es folgt daraus jedoch nicht, dass Magie und Naturwissenschaften im Widerspruch zueinander stehen, sondern dass man die beiden unterschiedlichen Blickwinkel dazu nutzen können müsste, um ein umfassenderes Weltbild entwerfen zu können. Schließlich beschreiben die Naturwissenschaften und die Magie dieselbe Welt ...

Wenn beide die Welt von verschiedenen Standpunkten aus beschreiben und daher unterschiedliche Darstellungen und auch ein unterschiedliches Vokabular entwickelt haben, stellt sich die Frage, was man eigentlich bei diesen beiden Weltbildern vergleichen könnte. Im magischen Weltbild kommen die naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhänge nicht vor und in dem naturwissenschaftlichen Weltbild tun es die Analogien der Magie auch nicht.

Was beide Weltbilder jedoch gemeinsam haben, sind die Strukturen, die sie beobachten, sowie die Winkel zwischen verschiedenen Dingen als kleinstes Strukturelement. Schließlich gibt es auch noch die Erhaltungssätze, die in beiden Systemen ein prägendes Element sein sollten.

Der Anfang aller Dinge ist in beiden Systemen gleich: „Am Anfang war die Singularität” und „Am Anfang war Gott”. (S. 176/177)

Nach diesen einleitenden Bemerkungen zu seiner Methodik wirft uns Eilenstein in die Mitte eines Puzzles von korrelierenden Entsprechungen zwischen dem wissenschaftlichen und dem magischen Weltbild, an dessen Entwicklung er Jahrzehnte gearbeitet haben muss. Was sich wie die hypnotisierende Erklärung der Welt auf dem Rücken einer einzelnen Serviette entfaltet, wird in Bezug auf die kognitive Dissonanz, die es im Kopf des Lesers erzeugt, schnell zu purem Gold. Denn das Ziel dieser Essays besteht, zumindest unserer bescheidenen Meinung nach, keineswegs darin, den Leser zu überzeugen. Vielmehr sehen wir es darin, den Leser so tief in das Labyrinth des „Wunderlandes“ zu führen, das Eilenstein selbst gründlich erforscht hat, dass er einige seiner lang gehegten persönlichen Überzeugungen zerbrechen sehen wird. Eilensteins Essays funktionieren prächtig, indem sie den Geist des Lesers aus der Balance stoßen und ihn stattdessen zu einem Grad von Beweglichkeit und Elastizität einladen, den viele seit ihrer Schulzeit vermisst haben mögen. Andere Leser mögen diesen Zustand hassen – je nachdem, wie locker wir die Zügel unseres Geistes lassen können, während wir das magische Reich erforschen.

Solche mentalen Dehnungsübungen sind von entscheidender Bedeutung, um nicht in falscher Orthodoxie oder in der unumstößlichen Wahrheit eines einzelnen Paradigmas steckenzubleiben. Sie sind jedoch vor allem für den Neophyten von unschätzbarem Wert. Denn gerade in der Zeit, in der wir uns ins völlig Unbekannte aufmachen, sehnen wir uns am meisten nach verlässlichen Ankerpunkten, simplen Wahrheiten und eindeutiger Orientierung. Zu lernen, sich in seiner Umgebung und in sich selbst zurechtzufinden, wenn diese fehlen, ist das Kennzeichen des wahren Adepten. Und Eilenstein weiß aus dem Schatz seiner umfangreichen Bibliografie zu schöpfen, um sowohl Neuankömmlinge als auch Adepten der magischen Reise mit einigen wohlgezielten Schlägen aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Eilensteins Auffassung von dem, was er als „Da’ath Magie“ bezeichnet, verdient spezifische Erwähnung. Er definiert sie als die breite Kategorie der Magie, die „die Naturgesetze vorübergehend außer Kraft setzt“ (S. 120) und eröffnet damit den Blick auf eine faszinierende Konvergenz von Magie und Mystik, eine Sphäre, in der das Unmögliche vorübergehend möglich wird. Seinen Beobachtungen und Studien zufolge bedarf es vier allgemeiner Voraussetzungen, damit diese Art von Magie erlebt werden kann: (1) eine mühelose Herangehensweise, (2) echtes Vertrauen in die Gottheit, mit der der Praktizierende arbeitet, (3) eine entspannte Einsgerichtetheit (S. 121) und (4) das Verblassen des Egos. Sobald es dem Magier gelingt, in die Sphäre der Da’ath-Magie, den „abgrenzungslosen Bereich der Gottheiten“ (S. 125), zu gelangen, sieht er sich folglich einem Paradoxon gegenüber, das in der westlichen Tradition der Magie wohlbekannt ist: Er sieht sich mit dem raschen Verlust der eigenen weltlichen magischen Ambitionen konfrontiert. In dem Moment, in dem die Gottheit dem Magier das Tor öffnet, um „den Arm des Schicksals zu beugen“, erkennt sich der Magier als ein mit leeren Händen Dastehender, als ein mit offenem Herzen Sehender – völlig entwaffnet, antriebslos, vielleicht sogar lustlos gegenüber jeder Veränderung im materiellen Bereich.

Eine auffällige Eigenheit der Da’ath-Magie ist es, dass man, wenn man sie erlernt hat, kein besonders ausgeprägtes Bedürfnis mehr hat, sie auch zu benutzen: Man hat dann aufgehört, nach Macht u. ä. zu streben und fließt stattdessen mit dem Leben. (S. 126)

Was Eilenstein nicht erwähnt: dass es genau diese Vorstellung ist, schweigend im offenen Strom des Göttlichen zu stehen, die die drastischsten Veränderungen ermöglicht, sowohl innerhalb des Magiers als auch in der Welt, an der er teilnimmt. Denn die göttlichen Kräfte sind nicht mehr durch das Ego, durch menschlichen Willen und menschliches Wollen eingeschränkt. Schlussendlich kann das Göttliche bedingungslos durch menschliches Fleisch, Knochen und Geist fließen. In dem Moment, in dem der Magier durch das Tor von Da’ath schreitet, wird er eins mit dem Tor. Oder anders gesprochen: Niemand schreitet durch das Tor von Da’ath, ohne eins mit ihm zu werden.

 

 

Wir haben die Stimmen, die sich in diesem Buch vereinen, als Echos von Mephistopheles, dem „Drunken Master“, einem wettergegerbten Sanitäter und dem weißen Kaninchen aus Alice im Wunderland beschrieben. Nichts davon ist natürlich wahr. Was diese wirklich sind, sind Stimmen ehrlicher Erinnerungen, tiefgründiger Überlegungen sowie nostalgischer Anekdoten. Vier Stimmen von vier Menschen, die ihr Leben damit verbracht haben, das magische Reich zu erforschen. Es scheint, was diese Männer auf ihren verschiedenen Reisen zuvorderst verband, war der bilderstürmerische Geist, sich einen Weg außerhalb jeder Art von anerkannter Orthodoxie zu bahnen; ebenso wie das gemeinsame Verständnis von Magie als einem fortwährenden Kampf gegen die Ohnmacht des Menschen angesichts einer Welt, die ihr Gleichgewicht verloren hat. 

In diesem Sinne ist Magie heute genau das, was der Titel besagt. Ein Buch, das die Magie zurück in die Gegenwart trägt. Es hat damit alles, um noch lange ein Klassiker zu bleiben. Es ist zugleich ein humorvolles, ein oberflächliches und doch zutiefst menschliches und zum Nachdenken anregendes Buch.

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