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‘Mächtig geheim: Einblicke in die Psychosophische Gesellschaft 1945–2009’ von Iris Blum


Besprechung: Iris Blum, Mächtig geheim: Einblicke in die Psychosophische Gesellschaft 1945–2009. Zürich: Limmat 2016, ISBN: 9783857918216

von Frater V∴D∴


Grüezi, OTO!

Es ist sicher keine Übertreibung, von einer sehr bewegten Geschichte des Ordo Templi Orientis (OTO) – in der älteren Literatur oft auch schlicht als “Osttempler” oder „Orientalische Templer“ bezeichnet – zu sprechen. Es gab auch eine Zeit, da es ausgesprochen schwerfiel nicht den Überblick zu verlieren, wenn man auf die vielen unterschiedlichen Bünde und Organisationen schaute, die diesen Namen, sei es gänzlich oder teilweise für sich reklamierten und sich untereinander bisweilen erbitterte Legitimationskämpfe lieferten: OTO, Caliphats-OTO (auch, bis heute, wiewohl inoffiziell: “kalifornischer OTO”), OTOA, Typhonian OTO, Voudon OTO, OTOF usw.

Im vorliegenden Werk geht es unter anderem, wenngleich nicht ausschließlich, um die Geschichte des Schweizer OTO, der nach außen hin vornehmlich unter dem Verlagsnamen Psychosophische Gesellschaft in Erscheinung trat und seinen Sitz in der Ortschaft Stein im Kanton Appenzell (Ausserrhoden) hatte. Dort betrieb er seine “Abtei Thelema”, daran angeschlossen ein alchemistisches Labor und eine Wetterstation, sowie über längere Zeit einen Gasthof. Hier wurde auch jeden Sonntag die Gnostisch Katholische Messe zelebriert. (Die einstmals eigenständige französische Ecclesia Gnostica Catholica wurde schon früh in den ursprünglichen OTO integriert.) In ihren besten Jahren, so informiert uns der Klappentext, versendete die Psychosophische Gesellschaft die Mitteilungsblätter Ex Occidente Lux und Oriflamme weltweit an etwa zweitausend Interessierte.

Die Hauptprotagonisten des 1945 aus der Taufe gehobenen Projekts Psychosophische Gesellschaft, das unter seinem Schirm mehrere okkulte Organisationen vereinte (davon unten mehr), waren der Gründer Hermann Metzger, seine Lebensgefährtin Anita Borgert sowie die langzeitige Mäzenin Annemarie Aeschbach. Es bleibt daher nicht aus, dass diese einen Schwerpunkt der Befassung bilden, doch lernt der Leser im Zuge der Lektüre noch eine wahre Unzahl weiterer prominenter Gestalten des Okkultismus der Nachkriegszeit in allen Einzelheiten kennen.

Im Jahr 2010 wird die Historikerin, Archivarin und Autorin Iris Blum von der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden damit beauftragt, das unter dem Namen Collectio Magica et Occulta (CMO) als Nachlass-Sammlung vereinte Archiv und die Bibliothek der Psychosophischen Gesellschaft zu erschließen. So begibt sie sich zweimal die Woche vor Ort nach Stein, um dort die Akten zu inventarisieren und zu beschreiben, eine Arbeit, die insgesamt zwei Jahre in Anspruch nehmen soll.

Danach entscheidet sie sich dazu, in eigener Regie ein Buch über das Archiv und die Psychosophische Gesellschaft zu verfassen, was mit Hilfe von Stiftungsgeldern und Zuschüssen aus unterschiedlichen Quellen schließlich auch gelingt, wobei der Limmat Verlag die Publikation übernimmt – das Ergebnis ist das vorliegende Buch.

Dabei ist Blum das durchaus bewunderungswürdige Kunststück gelungen, ein umfangreiches, zugleich aber auch äußerst übersichtliches Nachschlagewerk zu verfassen, dass sich bei aller bibliothekarischen Akribie stets flüssig und interessant liest. Wer sich mit Umfeld und Vorgeschichte des Themas einigermaßen auskennt, kann es also unbeschadet an jeder beliebigen Stelle öffnen, um loszulegen; wem dagegen eher an einer systematischen Einführung gelegen ist, der wird es wohl konventionell vom Anfang bis zum Ende verfolgen wollen.

Die liebevolle, wenngleich etwas ungewöhnliche Aufmachung (so weist das Buch beispielsweise keinen Rückendeckel auf und gewährt somit einen Einblick in die „nackte“ Bindetechnik) tut ihr Übriges, um die Lektüre zu einer Freude zu machen: Nicht nur, dass der Titel fest und solide in der Hand liegt, auch die drei beigebundenen, unterschiedlich gefärbten Lesebänder machen deutlich, dass der Verlag sich dankenswerterweise einige Gedanken zum Lesekomfort gemacht hat. 

In dem Abschnitt “Lebensgeschichten von A bis W” finden sich zwanzig ausführliche Biografien von Esoterikern und Okkultisten, die teils mehr teils weniger eng mit der Psychosophischen Gesellschaft und ihren Protagonisten verbunden waren. Über die Gründer und Betreiber Metzger, Borgert und Aeschbach hinaus finden sich solch illustre Namen wie Aleister Crowley, Franz Bardon, Herbert Fritsche, Karl Germer, Albin Grau und Theodor Reuss. Aber auch weitere relevante Figuren, darunter Friedrich Lekve, Carl H. Petersen und sogar Kenneth Anger treten hier auf.

Interessant an diesen “Lebensgeschichten” sind, über die rein biografischen Details hinaus, die Verknüpfungen der geschilderten Personen untereinander, ihre Briefwechsel, Bündnisse und Streitigkeiten. Wenn beispielsweise Fritsche sich gegenüber seinem Freund Martin Buber über Lekves umstrittene Thelemitische Lektionen und seine Versuche auslässt, Aleister Crowleys Lehren mit dem jüdischen Chassidismus zu verknüpfen und eine einschlägige Gemeinschaft, die “Thelem Chassidim”, auf die Beine zu stellen, dann wiederum Karl Germers Pathologisierung desselben zitiert wird, flankiert von einer pragmatischen Einschätzung durch Gregorius gegenüber Metzger: “Mit Lekve werden wir später sicher harmonisch zusammenarbeiten können. – Er kommt ja allein auch nicht weiter, seine Publikationen sind viel zu hoch und zu schwer für einen erweiterten Organisationsaufbau. – Obwohl sie inhaltlich sehr gut sind.” (S. 86), so bietet das einmalige Einblicke in das dynamische Gespinst zwischen den beteiligten Persönlichkeiten und dem, was hinter den Kulissen ihrer jeweiligen Organisationen tatsächlich stattfand. Das ist nicht nur für sich genommen bereits interessant, es bietet auch sicher einen reichen Fundus für die weitergehende Forschung.

Zunächst überrascht es etwas, dass in dieser Liste von Lebensgeschichten ausgerechnet Gregor A. Gregorius (Eugen Grosche) fehlt – das ist allerdings kein Versehen, denn in einem späteren Abschnitt über die Fraternitas Saturni (S. 229) erhält der Leser einen umfassenden Einblick in seine Beziehung zu Metzger sowie in die letztlich gescheiterten Fusionsverhandlungen zwischen FS und OTO nebst ihren unschönen Begleiterscheinungen wie etwa der Tatsache, dass Metzger sich trotz mehrmaliger Aufforderung beharrlich weigerte, die ihm von Gregorius übersandten Originalmanuskripte seiner beiden Romane Exorial und Der Weg ins dunkle Licht zurückzusenden, was diesen in eine äußerst missliche Lage brachte. (Es scheint dies überhaupt eine unangenehme Eigenart Metzgers gewesen zu sein, denn wie wir im späteren Abschnitt “Rosenkreuzer” erfahren, tat er nach seinem Ausscheiden aus AMORC mit den ihm von dieser Organisation ausdrücklich nur leihweise überlassenen Lehrbriefen das gleiche.)

Die Seiten 129 bis 218 bilden die Rubrik “Sehenswertes”, unterteilt in “Lebensgeschichten” und “Tätigkeitsfelder”: eine umfangreiche Zusammenstellung von Foto- und anderem Bildmaterial mit ausführlichen Legenden und Quellennachweisen.

Es folgt der Abschnitt “Tätigkeitsfelder von A bis W” mit solch unterschiedlichen Themenschwerpunkten wie “Abtei Thelema”, “Aequinox – Ex Occidente Lux – Oriflamme”, “Gnostisch Katholische Kirche”, “Freimaurer”, “Haus Rose”, “Illuminaten”, “Jupiterbund”, “Labor Thelema”, “Thelemitische Festtage”, “Wetterstation Thelema” und einiges mehr, das auch in die jüngere Vergangenheit reicht.

Abgerundet wird das Buch durch ein Personen- sowie ein knappes Begriffs-Glossar. Ersteres enthält auch einige historische und andere Namen, die im Text Erwähnung finden, beispielsweise Madame Blavatsky, Papus, Franz Hartmann und Annie Besant, aber auch Gottfried Benn, Bobby Beausoleil und Marianne Faithfull: ein recht eklektischer Mix, der vor allem dem Laien etwas mehr Orientierung bietet.

Im Abschnitt “Prozess” erfahren wir alles über die mediale Hetzkampagne, die der deutsche Kolportage-Journalist Horst Knaut Anfang der 70er Jahre gegen Metzger und die Seinen führte, in deren Verlauf er sich auch nicht scheute, sie ohne jede faktische Grundlage mit der kalifornischen Gruppe um Charles Manson und deren Mordtaten in Verbindung zu bringen. Das führte zu jahrelangen rechtlichen Auseinandersetzungen und letztlich zur Zerstörung der Existenzgrundlage des Gastbetriebs Rose in Stein sowie einem massiven Anhängerschwund, durch welchen die Psychosophische Gesellschaft schließlich völlig marginalisiert zurückblieb.

Ein weiterer Abschnitt widmet sich detailliert der Entstehung und dem Werdegang des komplizierten Geflechts an Organisationen, Orden und Wirtschaftsunternehmungen, für welches die Psychosophische Gesellschaft als Dachorganisation, Vorhof und PR-Front fungierte. Dabei stellte der OTO als Komturei Thelema nur eine Gruppierung von mehreren dar, auch die Fraternitas Rosicruciana Antiqua (FRA) und der Illuminatorum Ordo (IO) oder Weltbund der Illuminaten gehörten dazu, ebenso die Gnostisch Katholische Kirche, die Freie Geistes- und Lebensschule Thelema, das Labor Thelema, die Wetterstation Thelema sowie der bereits erwähnte Gastbetrieb Rose. Auch ein durchgängiges Angebot an Kursen und Seminaren wurde an unterschiedlichen Veranstaltungsorten selbst noch in Krisenzeiten aufrechterhalten.

Der Abschnitt “Rosenkreuzer” befasst sich eingehend mit den anfänglichen Verbindungen und dem schlussendlichen Bruch sowohl Metzgers als auch Aeschbachs mit AMORC und ihrem schließlichen Schwenk zu dem einst von Arnoldo Krumm-Heller gegründeten FRA über südamerikanische Kontakte sowie solche zu Herbert Fritsche, dessen FRA-Patriarchenamt Metzger nach Fritzsches Tod 1960 schließlich übernahm.

Diese Beispiele sollen genügen, um die thematische Vielfalt zu beleuchten, die sich hinter dem eher unscheinbaren Titel des Buchs verbirgt. Eine weitere Besonderheit verdient allerdings noch Erwähnung.

Man fühlt sich an Arno Schmidt und sein Diktum erinnert, wie leicht doch “so ein Lieblingsautor zum Hausgespenst” werden kann, und zwar ganz wörtlich, wenn man den zweiseitigen, unpaginiert zwischen S. 232 und S. 233 eingeschobenen¹, “Monströse Monatsreste” betitelten Vermerk Blums liest, in  dem es unter anderem heißt:

Das Archiv ist gierig und gefährlich. Immer öfter wache ich vor den beiden Arbeitstagen im Appenzellerland erschöpft auf. Was mich tagsüber in Stein verstört, lebt nachts in Winternächten fort. Eine Verschwörung mit gigantischer Papierexplosion und mysteriösem Inhalt. In Zürich entstehen albtraumhafte Zwischenarchive, im Englischen treffend Limbo genannt: Die säurefreien Mappen sträuben sich gegen das Falten. Ich schneide mich an den Kanten der Jurismappen, winzige Blutspuren zieren die entpufferten Schachteln. Sie sperren sich gegen die Beschriftung. Jedes Wort, das ich auf die Schachtel banne, verschwindet wieder. […] Wenn ich wieder am Schreibtisch sitze, ziehen Hunderte von Menschen in sogenannten “Schuppeln” an mir vorbei. Winterjohannisfest. Glockengeläut begleitet ihr majestätisches Schreiten. […] Seltsame Umhänge leuchten in grellen Farben. Priesterinnen in violettseidenen Gewändern und Hüten mit Glasperlen und Silbertressen winken mir durch die große Glasfront zu. Die nachfolgenden Priester tragen Dämonenlarven, ihre Körper sind mit Reisig, Laub und Stroh bedeckt. […] Erwachsene schwingen Weihrauchgefäße wie Morgensterne durch die Luft. Eine Stele aus Holz, mit dem Abbild eines ägyptischen Gottes, wird auf einem klapprigen Lediwagen mitgeführt, eingebettet in Klärschlamm und Demeter-Gemüse. Ich will mit diesen Menschen in die Kapelle mitgehen, in die Krypta unter meinem Archiv. Aber ich kann mich nicht bewegen. […] Alles schwindelt sakral und okkult. Und von weither höre ich ein hämisches Gelächter. Ich glaube die Fratze von Aleister Crowley zu erkennen, der sein Gedicht Hymne an Pan auf seine Glatze legt …

Zerschlagen und zerrüttet wache ich auf. Noch nachts will ich mir die Gespenster vom Leibe schreiben. Ich trage meinen Traum zur Tastatur und zerhacke ihn zu einer zweiten Version. Nur so weichen Angst und Wut allmählich wieder einer Verwunderung. Warum nur bin ich so beteiligt?

Wir lesen hier also von einer Art thelemitisch durchzogenen Sommersonnenwendfeier mit orgiastischen, hexensabbatähnlichen sowie okkult-literarischen Versatzstücken. Auf die Frage der Verfasserin nach ihrer eigenen Beteiligung wie auch auf jene, was wohl diesen seltsamen Albtraum ausgelöst haben könnte, hätte der eine oder andere erfahrene Okkultist sicher eine Antwort vorzuschlagen; der eine oder andere Psychoanalytiker freilich auch, weshalb wir es bei der Bemerkung bewenden lassen wollen, dass diese, für eine Archivarbeit recht ungewöhnlichen subjektiven Einflechtungen dem ganzen, doch eher sachlich angelegten Projekt deutlich etwas magischen Flair hinzufügen und ihm einen zusätzlichen aktuellen Lebensbezug verleihen. Das mag für manche Leser etwas gewöhnungsbedürftig sein, spricht aber eindeutig für das authentische Engagement der Autorin. Sollte dieses Beispiel Schule machen, wären wir hier vielleicht sogar Zeugen der Entstehung eines neuen Genres.

Immerhin gemahnt das ganze an den auch von Gustav Meyrink gern zitierten Satz aus dem Sohar: “Halt ein! Mit Gespenstern spielend, wirst du selber zum Gespenst.” Was wiederum der eingangs bemühten Bemerkung Arno Schmidts eine unverhoffte zusätzliche Dimension verleiht …

Alles in allem ein Buch, das seinem sehr komplexen Thema vollkommen gerecht wird und selbst dem in der Materie beschlagenen Leser bisweilen noch einige neue Aufschlüsse und interessante Details bietet.

¹ Das Inhaltsverzeichnis gibt fälschlicherweise die Seitenzahlen 237 und 241 an.