Paralibrum

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‘Ahnungslos unter Erleuchteten’ von Willi Dommer


Besprechung: Willi Dommer, Ahnungslos unter Erleuchteten, Norderstedt: Books on Demand 2020 (2. Aufl.), ISBN: 9783748127697

Von Frater V∴D∴


Im zarten Kindesalter besuchte ich einmal zwei ältere Großtanten, Schwestern meines Großvaters väterlicherseits, die im Hannoverschen auf dem Land gemeinsam eine Art Hexenhäuschen bewohnten, in dem sie ihren Lebensabend verbrachten. Neben vielen anderen Eindrücken blieb in meiner Erinnerung haften, dass sie in ihrem Wohnzimmer ganze Stapel von Zeitschriften aufbewahrten, wie ich sie noch nirgends zuvor gesehen hatte. Zwei davon waren wie Boulevardblätter aufgemacht: Das Neue Zeitalter und Die Neue Weltschau. Eine dritte war etwas kleinformatiger und trug den Titel Die andere Welt. Abgelenkt von dem überaus herzlichen Empfang, von Kaffee und Kuchen und was derlei Familienvisiten sonst noch alles auszumachen pflegt, konnte ich diese Druckerzeugnisse leider nur flüchtig durchblättern und ihre (im Nachhinein betrachtet reichlich reißerischen) Schlagzeilen sichten. Da ging es um Wahrsager und Wunderheiler, um Astrologie und ihre Horoskope (was mir damals natürlich noch überhaupt nichts sagte), um unerklärliche Naturphänomene, Rutengehen, UFO-Sichtungen und manches mehr. Alles sehr geheimnisvoll und mir zum größten Teil völlig unverständlich. Immerhin blieb die Faszination, was sich in späteren Jahren in einem vermehrten Interesse an solchen Themen widerspiegeln sollte.

Tatsächlich erschienen diese Zeitschriften noch über einige Jahrzehnte, nur Die andere Welt hatte, was ich erst sehr viel später erfuhr, Titel und Aufmachung geändert und sollte noch lange Zeit unter dem Namen Esotera die gesamte deutschsprachige Esoterik prägen.

Esotera war Bestandteil des Verlags Hermann Bauer in Freiburg im Breisgau. Dieser Verlag war ursprünglich 1937 von Hermann Bauer gegründet worden, der übrigens nach dem Krieg auch Mitbegründer des Spiegel-Verlags wurde. Durch Zukauf anderer einschlägiger Unternehmen und Zeitschriften (Die weiße FahneDie okkulte Stimme) und ihrer Verschmelzung zur Monatszeitschrift Esotera (Gesamtauflage ca. 60.000) entwickelte sich der Verlag zu einem veritablen esoterischen Großunternehmen, zu dem auch der Lebensreform-Versand Prana-Haus gehörte. Bei Bauer erschienen solch einflussreiche Werke wie die Yoga-Klassiker von Vivekananda, Sebottendorfs Die geheimen Übungen der türkischen Freimaurer, Autoren wie Waltharius, Karl Weinfurter und Franz Hartmann, die Bücher Franz Bardons und so manches mehr, was lange Zeit den Ton angeben sollte. Zwar hatte Bauer durchaus seine Konkurrenz, etwa O. W. Barth, Eugen Diederichs, Ansata, Aurum, Drei Eichen, Origo, Rohm usw., doch sollte er nicht zuletzt durch die vergleichsweise weite Verbreitung der Esotera und des angeschlossenen Prana-Haus-Versands sowie seine enorme, über Jahrzehnte aufgebaute und gepflegte Kundenliste lange Zeit Marktführer im Segment Esoterik bleiben.

Freilich hatte die Esotera unter Hardcore-Esoterikern und klassischen Okkultisten nicht nur ihre Freunde. Wenngleich sowohl journalistisch als auch gestalterisch recht professionell gemacht, galt sie doch vor allem unter Magiern, Hermetikern, bündisch organisierten Adepten, Mystik-Liebhabern, Wicca-Anhängern und Neuheiden allgemein als viel zu oberflächlich, jeder Esoterik-Mode nachjagend und nur den Massenmarkt bedienend, ja als geradezu läppisch. Dennoch fand sie auch innerhalb dieser Gruppe ihre regelmäßigen Leser. Grund dafür war vor allem der ausgiebige Veranstaltungs- und Kleinanzeigenteil, über den man auch auf Entwicklungen und Angebote aufmerksam werden konnte, die sich im redaktionellen Teil des Blatts nie widerspiegelten. Lange vor dem Internet, war dies oft die einzige halbwegs brauchbare, konzentrierte Informationsquelle für die einschlägig Interessierten.

Wie die Welt der Esoterik selbst, durchlief auch die Esotera so manche Wandlung, die unter Insidern nicht immer nur auf Gegenliebe stieß. So erinnere ich mich an ein Gespräch in den 80er Jahren mit Hans Geisler, der lange Zeit Chefredakteur des Magazin-Vorläufers Die andere Welt gewesen war. Er beklagte sich bitterlich über seinen Sohn, der inzwischen seine Nachfolge angetreten hatte und nun, ebenfalls als Chefredakteur, die Esotera leitete. Früher sei das Blatt ja noch eine echte okkultistische Zeitschrift gewesen, wetterte er, die sich ernsthaft mit Geheimwissenschaften und Parapsychologie befasst habe, dagegen ginge es heute nur noch um modischen, meist aus Amerika kritiklos importierten Firlefanz. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass er damit bei mir offene Türen einrannte…


Unser Autor, Willi Dommer, stieß Mitte der 80er Jahre als gelernter Journalist und promovierter Soziologe zur Redaktion der Esotera, wovon er ausführlich berichtet. Doch nein, hier ist gleich eine kleine Korrektur erforderlich: Denn es handelt sich bei seinem Erlebnisbericht zumindest formal, tatsächlich jedoch nur selbsterklärtermaßen um einen Roman. Zutreffender wäre wohl der mittlerweile etwas aus der Mode gekommene Begriff “Schlüsselroman”, denn soweit erkennbar ist nichts an der geschilderten Handlung wirklich fiktional, lediglich die Namen der meisten Protagonisten (allerdings keineswegs alle) sowie der des Verlags wurden verfremdet, auch die Zeitschrift selbst bleibt unbenannt. Das gilt jedoch nicht für die unterschiedlichsten, mehr oder weniger prominenten Figuren aus dem überaus umfangreichen Bestiarium der esoterischen Gurus, Propheten, Geistheiler, Hellseher, Welterlöser, Para- und anderen Psychologen, Diätapostel, Existenzkrisengewinnler, Spiritualitätsausbeuter und diversen Seminarreferenten, die der Autor vor unseren Augen aufmarschieren lässt, dabei selten in sonderlich schmeichelhafter Weise.

Schon der Vorspann lässt daran keinen Zweifel aufkommen:

Zu behaupten, die Handlung dieses Buches sei frei erfunden, wäre glatt gelogen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind natürlich durchaus beabsichtigt.

Wenn Sie sich in einer der Figuren, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, zu erkennen glauben, aber vollkommen falsch dargestellt fühlen, denken Sie mal über diesen Satz von Oscar Wilde nach: “Nur die Oberflächlichen erkennen sich selbst.”

Und für mich, den Autor gilt die Unschuldsvermutung und dass man die Welt immer nur mit den eigenen Augen sehen kann. (S. 2)

Dommer entstammt dem proletarischen Ruhrgebietsmilieu, bringt es aber immerhin zu einem Doktor der Soziologie, um schließlich einige Jahre als mehr oder weniger gut gelittener Journalist bei einer heimischen Regionalzeitung zuzubringen, bis man ihn schließlich rauswirft. Nach zahllosen vergeblichen Bewerbungen erlangt er schließlich eine Anstellung ausgerechnet bei der Freiburger (wie gesagt: formal ungenannt bleibenden) Esotera – er, der von Esoterik nicht die leiseste Ahnung hat, wird als einziger ausgebildeter Journalist in die Redaktion aufgenommen. Der Leser nimmt ihm seine fachliche Unbeschlagenheit durchaus ab, wie er überhaupt stets recht glaubwürdig und überzeugend rüberkommt: unverkennbar subjektiv aber dabei aufrichtig und ohne allzu große Neigung zu Übertreibungen. Es ist dies allerdings auch ein literarischer Kniff, der es ihm ermöglicht, immer wieder sachliche Belehrungen einzuflechten, die ihm von Seiten seines Chefs, seiner Kollegen, gelegentlich auch von einem der Geisteslehrer selbst erteilt werden, um den einen oder anderen etwas obskuren esoterischen Sachverhalt zu erläutern. Der einschlägig eher unbedarfte Leser wird es ihm danken, denn schließlich kann niemand auf sämtlichen Spezialgebieten des reichen Felds der Esoterik gleichermaßen bewandert sein. Dommer tut dies sehr unbekümmert und sprachlich anspruchslos – ein lockerer und insgesamt recht süffiger Erzählstil, wie es sich für eine derartige Ansammlung bisweilen schreiend komischer Anekdoten ja auch ziemt.

Ein guter Journalist, denkt sich Dommer, kann über alles schreiben: sei es über einen Brieftaubenverein, über Fußball, über Korruption im örtlichen Stadtrat, über vertuschte Umweltskandale der regionalen Landwirtschaft – warum also nicht auch über Meditationstechniken, Spiritualität, keltische Gottheiten, Pendelkunde, Stundenhoroskope, kosmische Klänge, Tanztherapie, Neurolinguistisches Programmieren oder die Suche nach dem Sinn des Lebens? Was man nicht weiß, kann man (vielleicht) lernen, wenigstens kann man es versuchen. Und so rackert er sich redlich ab: Skeptisch aber prinzipiell offen für Neues, besucht er esoterische Konferenzen, nimmt an Kursen teil, versucht sich an Rückführungen und Gestalttherapie, lässt sich über indianische Spiritualität ebenso aufklären wie über verschiedene Spielarten des Buddhismus, hängt mit peruanischen Schamanen ab und streitet sich mit amerikanischen wie europäischen Alleswissern beiderlei Geschlechts, denen vor allem die Dollarzeichen förmlich aus den Augen springen.

Es gibt eine altbekannte Maxime, die besagt: Wer eine Wurst genießen will, sollte besser nicht dabei zusehen, wie sie hergestellt wird. Davon mag man halten, was man will, hier drängt sie sich förmlich auf. Wie Esoterik hinter den Kulissen gemacht, verwaltet und letztlich vor allem auch ausgebeutet wird, das ist kein besonders erbaulicher Anblick. Denn gleich welche vermeintlichen Riesen der Spiritualität er an uns vorüberziehen lässt, und das sind so manche, das Narrativ der ungebrückten Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, erhabener Vergeistigung und armseliger, bisweilen sogar niederträchtigster Menschelei bleibt, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, fast immer dasselbe. Es ist eine lange Liste, die diese Prominenzparade bevölkert. So begegnen wir auf einer Schweizer Konferenz Erich von Däniken, der sich beim Autor/Redakteur über das mittlerweile völlig erloschene Interesse derEsotera an seinen neuesten archäo-astronautischen Ergüssen beschwert. Wir erfahren, wie die kalifornische Psychotherapeutin Jean Houston das Festival in Interlaken kurzerhand in weißem Flattergewand zum Wendepunkt der Menschheitsgeschichte erklärt. Dr. Diane “Seadancer” Battung, ihres Zeichens Bewusstseinsforscherin und zertifizierte (!) Schamanin, fordert zum großen Baum-Umarmen auf, dem sich sogar der britische Pflanzenphysiologie Dr. Rupert Sheldrake folgsam anschließt. Auch der Dalai Lama darf natürlich nicht fehlen, der kurz hereinschneit und prompt versichert, “dass er eine solche Zeremonie schon ganz schön toll findet. Er ist halt leutselig, und außerdem hat er ja auch nicht alles Seltsame und jeden Spinner miterlebt an diesem Wochenende zu Füßen von Jungfrau, Eiger und Mönch” (S. 64f.), wie ihn unser Autor treuherzig in Schutz nimmt. Was er freilich nicht bei jedem tut. Ein etwas ausführlicheres Gegenbeispiel soll hier genügen:

Harley Reagan Swift Deer kommt mir mehr als dubios vor – eine Mischung aus Alt-Hippie, Rocker und Zuhälter. Blumenhemd à la Flower-Power, Hells-Angels-Weste mit entsprechenden Stickern, in der einen Hand eine Fluppe, in der anderen eine Dose Asbach-Cola, acht fette Ringe an den Fingern und eine protzige Digital-Uhr am Handgelenk. Und da er ja offiziell Indianer ist, darf natürlich das rosa Stirnband nicht fehlen. Seine Frisur würde Jahre später mit der Kurzbezeichnung “Vokuhila” bezeichnet werden.

Ich erläutere dem [Kollegen; d. Verf.] Bierbichler mein ungutes Gefühl, doch der klärt mich darüber auf, dass so etwas bei Schamanen und Medizinmännern gang und gäbe ist: Die wirken immer wie Scharlatane. Daran erkenne man überhaupt erst, ob die authentisch seien.

Jahre später lerne ich auch den Begriff für Gestalten wie Swift Deer kennen: “Plastikschamanen” nennt man in Kreisen der an traditionellen Indianern orientierten Esoterik-Kritiker solche angeblichen Medizinmänner, die Europäern in Workshops das Geld aus der Tasche ziehen, während sie bei dem Stamm, der sie angeblich ausgesandt hat, gänzlich unbekannt sind. Von irgendeinem spirituellen Auftrag ganz zu schweigen. (S. 62)

(Da ich selbst ungefähr zur selben Zeit als Dolmetscher und Interviewer mit Harley Swiftdeer intensiv zu tun hatte, kann ich mich persönlich für Dommers Schilderung durchaus verbürgen, auch wenn er es versäumt, dessen beiden Frauen, seine Medizinräder-und-Schwitzhütten-sind-die-Lösung-für-alles-Manie und seine zahllosen Räuberpistolen zu erwähnen. Kleine Korrektur auch hier: Die Asbach-Cola war wohl eine Verwechslung, es dürfte sich dabei um eine Dose Dr. Peppers gehandelt haben, Swiftdeers Lieblingszuckerwasser, das er täglich literweise in sich hineinschüttete, auch nicht gerade eine Empfehlung. Außerdem sah er ungefähr so indianisch aus wie ein irischer Gebrauchtwagenhändler, strahlend blaue Augen inklusive.)

Später lernen wir den Oberton-Papst Michael Vetter kennen, der es längst nicht so mit der Demut zu haben scheint, wie er es seinen Anhängern gern predigt. Karl Scherer, Begründer des “Intuitiven Atmens”, was immer das sein mag, sammelt unermüdlich Selfies mit irgendwelcher internationalen Eso-Prominenz und intuiert vor allem Vorwände und Taktiken, vom Verlag kostenlos stapelweise Meditationsmusik-CDs zu schnorren, weil er sein eigenes Geld lieber für Eric Clapton, J. J. Cale und Mark Knopfler ausgibt.

Musikalisch kommt erwartungsgemäß auch der gute Professor Joachim-Ernst Berendt daher, einst Jazz-Oberguru des Südwestfunks, nunmehr jedoch erhabener “Prophet des Weltklangs”, der nur noch das Hören, keinesfalls aber das Sehen als Mittel zur spirituellen Entwicklung gelten lässt, was er mit einigermaßen hanebüchenen und kenntnisarmen Beispielen aus dem Tierreich zu belegen versucht.

Ein Besuch bei Warschauer Psychotronikern, wie man die Parapsychologen jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs zu nennen hatte, erweist sich dagegen als erfreulich geerdete Veranstaltung ohne jedes vegetarische Gemecker, bei der schließlich im Anschluss auch ein Joint aus südpolnischem Anbau die Runde macht – und das mitten im Ostblock!

Ferner haben ihren Auftritt, wenngleich nicht immer persönlich: die österreichische Autorin Lotte Ingrisch, die durchaus gut dabei wegkommt; das ebenfalls österreichische Channeling-Medium Mirabelle Coudris, das sich mit Durchsagen von C. G. Jung seinen Marktanteil sichert; Betty Waters aus den USA, die Glrypel vom Sirius channelt; Dr. John Westpoint, als Channeler in Kontakt mit dem Apostel Paulus; J. Z. Knight, die eifersüchtig auf dem Klageweg über ihre als Markenzeichen geschützte extraterrestrische Wesenheit Ramtha wacht; der Hofmystiker der Esotera, Johannes Zeisel, mit seinen etwas wunderlich anmutenden Vorstellungen zur Unbefleckten Empfängnis; der Extremdruide Anton Urszovics alias Raborne alias Oberhaupt der Welt und dieses Planeten, offenbar ein veritabler Kotzbrocken … und so weiter und so fort – es sei hier ja nicht alles verraten.

Nicht zu allen präsentierten esoterischen Zeitgenossen nimmt Dommer explizit Stellung, er betreibt auch intensives Namedropping, so mancher taucht nur kurz auf und verschwindet sofort wieder im Abyssus der Eitelkeiten, ganz ohne sein Fett weg zu bekommen. Andere bewertet er zwar detailliert, nennt sie aber nicht ausdrücklich beim Namen, was rein juristisch betrachtet wahrscheinlich auch das klügste sein dürfte.

Uneingeschränkt positiv äußert er sich fast nur über Sergius Golowin, was mich persönlich besonders freut, da ich diesen als einen außerordentlich warmherzigen, hilfsbereiten, ungeheuer beschlagenen, unprätentiösen und auf äußerst liebenswürdige Weise ausgeflippten Menschen kennengelernt habe, dessen Freundschaft ich stets zu schätzen wusste. Somit vermitteln mir seine beiden Beispiele Swiftdeer und Golowin den Eindruck: Auf Dommers Einschätzung ist einigermaßen Verlass.

Das inhaltliche Marktangebot, dem sich Dommer von Berufs wegen zuwenden muss, ist so riesig wie der Markt selbst und oft übertrifft es sich ebenfalls selbst in seiner unfreiwilligen Komik durch schiere Bündelung: Selbstfindung durch Paragliding in Südtirol, Wasser-Rebirthing in Thailand, Kanufahren als Zen-Weg, Mandala-Malen auf Lanzarote, Inner Skiing oder auch Integralreiten im Hunsrück. (“Auf den mitgeschickten Pressefotos sind die Pferde allerdings aus Holz.” S. 52) Dazu natürlich Runen-Yoga, Merlin-Tarot, Träumen mit ätherischen Ölen, indianisches Tantra, Reinkarnation mit Urtönen, keltisches Qi-Gong … Das überfordert durchaus nicht nur ihn allein: “Bisweilen wissen die Redakteure beim besten Willen nicht, welcher der ihnen als reinkarnierter Messias Angebotene nun der wahre ist”, heißt es beispielsweise auf Seite 134, worauf eine ausgiebige Liste doch eher unwahrscheinlicher Kandidaten folgt.

Um es mal anerkennungshalber im heimischen Ruhrpott-Jargon des Autors zu kommentieren: “Kannste echt nich erfinden.” Das Buch bietet noch sehr viel mehr Beispiele, eins abstruser als das andere, aber wir sollten auch hier vielleicht nicht allzu ungehemmt spoilern.

Zurück bleibt leider insgesamt allzu oft ein schaler Geschmack im Mund, der in seiner strengen Wahrhaftigkeit bedauerlicherweise immer wieder alles übersteigt, was man vielleicht mit einiger Bestürzung der kompromisslosen Subjektivität des Autors, seiner fundamental anti-esoterischen Geisteshaltung und seiner häufig thematisierten Verkopftheit zurechnen möchte. Doch es ist ja nicht so, als würde er sich nicht ernsthaft bemühen, auch wenn er sich immer wieder, keineswegs zu Unrecht, vorkommt wie ein eckiger Pflock in einem runden Loch. Und immerhin bleibt er auch fast zwanzig Jahre dabei, murrend zwar, aber im Kern oft sehr viel aufgeschlossener und sensibler, als er es vor sich selbst zugeben mag.

Da kann es kaum verwundern, wenn Dommer, der selbst auch Musik macht, angesichts eines unbenannten Münchner Autorenpaars, das aus einer Biergartenlaune heraus kurzerhand einen “Yoga der Druiden” erfindet, um damit durchaus erfolgreich die Esoterikszene hoppzunehmen, schließlich einen selbstverfassten parodistischen Deutsch-Rock-Text zum Besten gibt, Titel: “Bierwana”. Der ist einigermaßen haarsträubend und nicht sonderlich lustig, hat dafür aber etwas von verzweifelter Selbstverteidigung. Auch das kann die kommerzielle Weichspüleresoterik eben mit einem anstellen. So wird zwangsläufig nicht das Ego genichtet sondern nur die eigene Frustrationstoleranz.

Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch das Publikum selbst zu erwähnen, ohne welches dieses bunte Treiben gar nicht erst stattfinden könnte. Dabei ist es dankenswerterweise keineswegs so, als würde Dommer klischeehaft das alte abgedroschene Lied von den armen unschuldigen Opfern und heimtückisch Verführten absingen, wie es auf der Bühne der konventionellen und liberalen Medien so oft geboten wird. Das Spektrum der Beteiligten reicht vom ernsthaften, reflektierten Wahrheitssucher und Meditanten über dümmlich-leichtgläubige, hysterische Guru-Groupies bis zu den ewigen Zweiflern (allen voran er selbst), es führt uns von den existenziell Verunsicherten und Depressiven über die authentischen Ekstatiker, Gottestrunkenen und Rauschverliebten bis zu den wahnhaften Psychotikern und kleinkarierten Paranoikern. Dabei richtet er sein Hauptaugenmerk jedoch unverbrüchlich auf die eigentlichen Macher hinter der Szene: Verleger und Veranstalter, Lektorat und Redaktion, freie Autoren und festangestellte Journalisten – der Mittelbau der Marktmaschinerie also, wo sich tatsächlich weitaus weniger Zynismus und Nihilismus vorfindet, als der eine vielleicht hofft, der andere befürchtet. Und wie in der Riga der Referenten und Propheten, der Gaukelgurus und Weltenlehrer, besteht auch hier das ganze lärmende Gewusel ausschließlich aus mehr oder weniger stinknormalen Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Trieben und Ängsten, ihren Tugenden und Lastern, ihrer Spießigkeit und ihrem Großmut. Kein Grund also zu der Annahme, gleich wie hoch die weltanschauliche Latte großspurig gehängt werden mag, dass die Befassung mit der Esoterik aus uns tatsächlich bessere Zweibeiner machen würde. Das mag man je nach Standpunkt beruhigend oder deprimierend finden …

Schließlich kommt es, wie es wohl zwangsläufig kommen muss: Das durch und durch biedere Verlegerpaar (selbst erwiesenermaßen alles andere als ernsthaft überzeugte, linientreue Muster-Esoteriker) verkauft das Unternehmen plötzlich “weit unter Preis”, wobei wir von Dommer leider nicht genau erfahren, was eigentlich dazu geführt hat. Der neue Investor, augenscheinlich völlig marktfremd, dafür aber nicht minder von sich selbst überzeugt, verordnet der mittlerweile altehrwürdigen Esotera eine gänzlich andere Richtung: fort mit der altbackenen Esoterik (das heißt fortan “Lebenskunst” – eigentlich genau wie vor fünfzig Jahren, was ihm allerdings unbekannt sein dürfte) und dem ganzen schnöden New Age-Kram, das neue, hypermoderne Zauberwort heißt “Wellness”, wie originell. Und so kann man dem Blatt, das plötzlich ausgerechnet mit Vita und Brigitte konkurrieren soll, zwei trübe Jahre lang beim Sterben zusehen, seine treue Leserschaft systematisch und verbiestert verscheuchend, ohne sie durch eine neue ersetzen zu können, bis der ganze Laden endlich mit Karacho den Bach runtergeht und im Konkurs endet, wodurch im Endeffekt 60 Mitarbeiter auf der Straße landen. Die anhängigen Gerichtsprozesse ziehen sich noch über viele Jahre dahin. Unser Autor, inzwischen auch nicht mehr der Jüngste, endet schließlich als Paketbote und fragt sich bis heute, was das denn nun eigentlich sein soll, die vielbeschworene “Selbstfindung”, vom unentwegt angepeilten “Höheren Selbst“ ganz zu schweigen. Fast zwei Jahrzehnte engster Tuchfühlung mit der Welt der Esoterik haben ihm die Antwort darauf nicht liefern können. Aber wie gesagt: Wenn man eine Wurst genießen will …

Für die unmittelbar Beteiligten und ihre Zeitzeugen, mich selbst eingeschlossen, bietet das Buch zweifellos die Mini-Saga einer ganzen Ära, die man mit einem Gemisch aus Wehmut und Belustigung verfolgen mag. Doch eine solche Betrachtung allein wäre zu kurz gegriffen, denn dieses Zeitdokument weist durchaus über sich selbst hinaus. Sicher, der Markt und seine Mitspieler, seine Agitatoren und Protagonisten, seine Artikulationsformen und seine Medien, seine Triebkräfte und seine Methoden mögen sich seitdem massiv verändert haben. Stimmt schon. Daran jedoch, dass die alledem zugrundeliegenden Mechanismen und Unwuchten tatsächlich verschwunden wären, darf gezweifelt werden. Der Mensch ändert sich nun einmal deutlich weniger, als er es sich selbst so gern in die Tasche lügen mag. Man sollte den mittransportierten allgemeingültigen Lerneffekt also nicht unterschätzen. So wie die Esoterik von gestern stets nur eine Spielart jener von vorgestern war, ist die heutige lediglich die Reinkarnation, haha, der gestrigen, dürfte die morgige bestenfalls unsere jetzige mutatis mutandis widerspiegeln. Da sage noch einer, es gäbe keine Konstanz auf der Welt …